Es ist spät in Herning. Bald beginnt die mitternächtliche Geisterstunde. Ein sichtlich erschöpfter junger Mann steht in seiner verschwitzten Arbeitskleidung, die an eine mittelalterliche Ritterausrüstung mahnt, im hell erleuchteten Gang der Arena.
Er erzählt freundlich ein paar Chronisten von seinem jüngsten Abenteuer. Er ist am gleichen Morgen von Amerika her nach Herning angereist. Geschlafen habe er in den vergangenen 48 Stunden kaum richtig. Ein wenig im Flugzeug. Vielleicht eine Stunde im Auto auf dem Weg vom Flughafen zum Spielerhotel und dort habe er sich noch einmal eine halbe Stunde hinlegen können.
Es ist Nikolaj Ehlers. Der Sohn der Trainer-Legende Heinz Ehlers. Den ersten Schliff hat er einst bei Biels Junioren bekommen, als sein Vater dort tätig war. Deshalb parliert er fast akzentfreies Berndeutsch. Heute ist er bei den Winnipeg Jets ein Star in der besten Liga der Welt. Mit einem Siebenjahres-Vertrag im Wert von 42 Millionen Dollar.
Er ist unmittelbar nach dem letzten Spiel einer Saison mit fast 100 Spielen in seine dänische Heimat geeilt. Noch am Tag seiner Ankunft führt er die Dänen gleich zum Triumph über die Deutschen (2:1 n.P.) und in den Viertelfinal. Mit seinem Ausgleich zum 1:1 nach einem brillanten Spielzug hatte er erst das Penalty-Drama möglich gemacht.
Nikolaj Ehlers ist nicht etwa eine einsame Ausnahmeerscheinung. Wie er hat auch Nino Niederreiter, sein Teamkollege in Winnipeg, alles in Kanada stehen und liegen lassen, um seinem Land zu dienen. Auch er hat am Tag seiner Ankunft gleich die erste Partie bestritten und einen Assistpunkt zum 4:1 gegen Kasachstan beigesteuert.
Der Chronist ist im Laufe der Jahrzehnte schon diesem oder jenem Superstar auf internationalem Parkett begegnet. Er ist auch ein grosser Fussballfan. Und so geht ihm an diesem späten Abend in dieser Hockeyarena nach einem kurzen Schwatz mit Nikolaj Ehlers ein ketzerischer Gedanken durch den Kopf: Was wäre es, wenn ein Fussball-Nationalspieler, vielleicht gar ein ganz Grosser wie Neymar oder Shaqiri ein ähnliches Abenteuer zu bestehen hätte? Wenn einer der Fussball-Multimillionäre unmittelbar nach dem verlorenen letzten Meisterschaftsspiel auf einen anderen Kontinent jettet und dort gleich am Tag der Ankunft ein kapitales Spiel bei einem Titelturnier bestreiten müsse?
Ja, das wäre ein Theater! Ein Jammern einerseits und ein byzantinisches Lobpreisen andererseits. Zeit, um ein wenig mit einem alten Chronisten zu plaudern? Geht es eigentlich noch? Sicher nicht! Dafür würden Expertinnen und Experten aus jeder denkbaren Fachrichtung, von Raumfahrt über Medizin bis zu Polar- und Schlafforschung und natürlich auch Politisierende auf unzähligen Kanälen über diese heroische Tat, über diese eigentlich unmenschliche Belastung schnattern. Die Belastung würde mit jener von Extrembergsteigern, Astronauten oder Afrikaforschern verglichen.
Alles wäre schier unfassbar, ein nationales Medienereignis. Aus der Politik kämen Forderungen, dass solche unmenschlichen Belastungen künftig verboten gehören. Die Sozialisten würden mit Verve diese Auswüchse des modernen Sportkapitalismus geisseln.
Im Eishockey ist das alles hingegen eine Selbstverständlichkeit. Ein Teil der Romantik dieses Sportes. Wahre Männer halten das aus Punkt. Eine gesunde Macho-Kultur, die ein Teil der Faszination dieses ehrlichen, coolen Sportes ausmacht. Ende der Polemik und Übergang zu sachlicher Berichterstattung. Zur Frage, warum eigentlich auch unsere NHL-Stars jedes Jahr zur WM kommen.
Eine WM-Teilnahme rechnet sich nämlich für einen etablierten NHL-Profi nicht. Der Auftritt bei einem Titelturnier hat praktisch keinen Einfluss auf den Marktwert. Und die Prämien sind für die NHL-Multimillionäre so bescheiden, dass sich des Geldes wegen eine WM-Teilnahme auch nicht lohnt. Erreichen die Schweizer den Final, dann dürfte es zwar für jeden mehr als 50'000 Franken Prämien geben. Das mag im richtigen Leben viel sein. Aber nicht genug, damit junge Männer, die alle mehr als drei Millionen im Jahr verdienen, des schnöden Mammons zur WM zu reisen.
Trotzdem lehnt keiner aus der NHL ein WM-Aufgebot von Nationaltrainer Patrick Fischer ab. Absagen gibt es eigentlich nur, wenn einer keinen Vertrag für die neue Saison hat. Weil sich nur laufende Saläre versichern lassen. Künftige hingegen nicht.
Was also motiviert unsere NHL-Stars zu einer WM-Teilnahme, wenn nicht Geld? Der wichtigste Faktor ist eine Romantik, die es nur im Hockey in dieser ausgeprägten Form gibt.
Die Nordamerikaner preisen seit Anbeginn der Zeit Hockey als letzten echten Teamsport. Diese Romantik beginnt dort, wo die Kameraderie wichtiger wird als die Summe auf dem Konto. Dort, wo das Spielfeld ein Ort wird, an dem Männer und Multimillionäre wieder zu Jungs werden, die dem Puck hinterherjagen, weil das ihre Leidenschaft ist und nicht, weil sie es müssen.
Wenn Stars, die alles haben, was Geld kaufen kann, trotzdem freiwillig die Ferien verkürzen und die WM bestreiten, sich anschreien, anfeuern, umarmen, sich in Schüsse werfen, Schmerzen erleiden – dann geht es nicht um Verträge und Marktwert. Dann geht es um ein Abenteuer. Um das Hochgefühl, gemeinsam etwas zu erreichen, was allein nicht möglich wäre.
In der ersten Phase seiner Amtszeit ist Nationaltrainer Patrick Fischer oft für sein «Pausenplatz-Hockey» kritisiert worden. Inzwischen ist genau das sein Erfolgsgeheimnis: Zusammen mit seinen Assistenten hat er das zuweilen wilde «Pausenplatz-Hockey» längst strukturiert. Dabei ist ihm gelungen, die «Pausenplatz-Magie», die Lust am Spiel zu bewahren. Er führt auf leisen Sohlen, aber mit grosser Wirkung. Durch Sprache, Musik, Rituale, Atmosphäre in der Kabine. Es ist ein ständiges, feines Justieren der emotionalen Temperatur.
Die Pausenplatz-Magie ist die Kunst, Multimillionäre zum lustvollen, leidenschaftlichen Spielen zu bringen, als seien sie auf dem… Pausenplatz. Hat denn nicht der weltberühmte Philosoph Friedrich Nietzsche einmal gesagt: «Im echten Manne ist ein Kind versteckt: Das will spielen.» Seine Lehre daraus. «Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!» Heisst aufs Hockey übertragen: «Auf, ihr Trainer und Bandengeneräle, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!» Unser aller Gotthelf hat es einst noch viel einfacher auf den Punkt gebracht: «Geld und Geist».
Das ist eines der Erfolgsgeheimnisse im Eishockey im Allgemeinen und bei unserer Nationalmannschaft im Besonderen: Die Balance zwischen Geld und Geist stimmt.